Das hier ist auch eine Sestine: eine Gedichtform

Die eingebildete Kranke

Sie steht am Morgen auf mit mieser Miene.
„Welch öder Tag! Wie soll ich ihn beginnen?
Was tut mir heute wohl am meisten weh?
Wie kann ich diesem Alltagstrott entrinnen?
Am besten leg ich gleich mich wieder hin,
zieh mir die Decke hoch bis unters Kinn.

Zieh ich die Decke hoch bis unters Kinn,
seh ich im Spiegel nicht die miese Miene.
Welch öder Tag! Ich lass ihn spät beginnen …
Was tut mir heute denn am meisten weh?
Ich will dem Alltagstrott heut mal entrinnen
und gehe drum zum Arzt mal wieder hin!

Zu Fuß geh ich zum Doktor heute hin,
zieh mir den Kragen hoch bis unters Kinn.“
Und trotzdem sieht man noch die miese Miene.
„Welch öder Tag! Er sollte nie beginnen!
Die Beine tun mir jetzt am meisten weh.
Was soll ich tun, den Schmerzen zu entrinnen?“

Wehwehchen konnt noch niemals sie entrinnen!
Und deshalb geht zum Arzt sie wieder hin! …
Der untersucht vom Fuß stets bis zum Kinn.
Da steht sie dann mit saurer, mieser Miene.
Der Arzt spricht fern, kann pünktlich nicht beginnen.
Ihr tut derweil der ganze Körper weh!

Am Telefon erfährt der Arzt vom Weh
des Mannes, der der Arbeit will entrinnen
und deshalb möcht zum Arzt mal wieder hin,
der gründlich untersucht dann bis zum Kinn …
Die Frau steht da – halb nackt mit mieser Miene.
Nun ran! Der Arzt, er will sogleich beginnen.

Dass alle Tage immer gleich beginnen!
Der Arzt hört an ihr Ach und auch ihr Weh,
wie sie dem Alltagstrott kann nicht entrinnen
und nun zu ihm, dem Arzt, ging heute hin
zur Untersuchung, gründlich, bis zum Kinn.
Doch hellt nicht auf sich ihre miese Miene.

Mit mieser Miene muss kein Tag beginnen!
Dem großen Weh versuch doch zu entrinnen!
Leb froh dahin! Lach Falten bis zum Kinn!


Auch hier die Angaben zur Form:
6 Sestinenstrophen (Endecasillabo = Zehn-, Elfsilber)
1 dreizeilige Strophe
Versmaß: fünfhebige Jamben

Näheres unter Info-Sestine


© 2008 by Renate Golpon


Das hier ist eine Sestine: eine Strophenform

Eine sechszeilige Strophe eines Gedichts mit beliebigem Metrum

1   „Aus sechs Zeilen besteht die Sestine!“   dreihebiger Anapäst
2   sagt der Reimer mit fröhlicher Miene.       dreihebiger Anapäst
3   „Also dichte ich heiter                                  zweihebiger Anapäst
  jetzt noch vier Zeilen weiter,                      zweihebiger Anapäst
  setze dann mit Genuss                               zweihebiger Anapäst
6   einen Punkt. Fertig, Schluss.“                    zweihebiger Anapäst

In Grün für Lyrikkenner
mit ergänzenden Angaben zur Form dieses Gedichts:
paarige Endreime,
Versmaß (Metrum) Anapäst:
unbetont-unbetont-betont

    
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Sestine   Wieder mal möglicher Verwechslungsärger mit Homonymen!
Homonyme sind, platt gesagt, das Gegenteil von Synonymen,
also gleich geschriebene und oft auch gleich gesprochene Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung.
Das Beispiel links ist eine bestimmte Gedichtstrophe, das rechte eine bestimmte Gedichtform.

Arzt mit eingebildeter Kranken
Sprechstundenhilfe in Aktion
Zufriedener Patient
Gut bedienter, zufriedener Patient
Rechte Hand des Arztes