Georg Rudolf Weckherlin (1599-1653)
Sestine (Sechster oder Stände)
über den Tod von Myrta, Weckherlins erster Frau
1 Ach weh! so überschwer ist numehr mein verdruß
2 so gar ohn liecht und trost ist meines herzens nacht,
3 und mit so stetem lauf vergieß ich meine thränen,
4 daß sinkend tiefer stets in meinem zeherfluß
5 durch meines schweren leids und finstern leidens macht
6 nichts dan der tod allein kan und muß alles krönen.
6 Demnach der schnöde tod mich leider kont entkrönen,
1 so lieb ich nichts dan leid und will nichts dan verdruß:
5 ja daß die ganze welt seh meines schmerzens macht,
2 so haß ich alle ruh und lauf um tag und nacht,
4 dan in den dicken wald und dan zu einem fluß,
3 welchen ich bald vermehr mit regenreichen thränen.
3 Befind ich mich dan schier erdrunken in den thränen,
6 und daß ein kurzer schlaf will meine augen krönen,
4 dazu dan ihr getös verleihen wald und fluß,
1 so stillet er doch nicht mein elend und verdruß,
2 sondern durch den betrug der thränen und der nacht
5 verbittert er noch mehr stracks meines schmerzens macht.
5 Daher empfindlicher wird meiner trübsal macht,
3 die zwar befürdern wolt durch den sturm meiner thränen
2 mein unentfliehlichen schifbruch in finstrer nacht
6 doch kan mich mein unglück noch mit dem tod nicht krönen,
1 weil ein und andrer freind geflissen, ohn verdruß
4 mit aller kunst und gunst wolt drücknen des leids fluß.
4 Wan ich alsdan bedenk der freuden überfluß,
5 wan ich zu herzen führ der schönsten schönheit macht,
1 den lieblichen lusts zwang, süßsauren liebverdruß
3 und den saursüßen glimpf der lächelnd schönen thränen,
6 wan prächtig Amor mich mit Myrten pflag zu krönen,
2 daß ich, ach daß ich war glückselig tag und nacht:
2 Ach, daß ich (sprich ich dan) in ewiger traurnacht
4 noch mehr auch drinken möcht aus der vergessung fluß
6 und meiner lieb verlust mit mehrerm verlust krönen!
5 ach, wär doch numehr gleich des leids kraft der lieb macht!
3 ach, wär doch numehr voll das wilde meer der thränen,
1 die unerschöpflich nu vergießet mein verdruß!
1+2 Alsdan solt mein verdruß mich bald nach dieser nacht
4+3 aus der lieb überfluß widrum mit freudenthränen
5+6 durch des tods kurze macht mit Myrten ewig krönen.
Belesener Mitmensch
Als Lyrikkenner muss ich protestieren!
Das Beispiel ist schlecht gewählt.
Denn das Metrum (Versmaß) stimmt zwar:
Es sind Jamben.
Aber doch nicht die üblichen
Zehn- oder Elfsilber
(zehn Silben, manchmal plus unbetonter Schlusssilbe),
sondern zwölf Silben
(bzw.13 bei unbetonter Schlusssilbe).
Renate Golpon
Sie haben recht.
Weckherlin war der erste deutsche Dichter,
der Sestinen veröffentlicht hat. Und da er sicherlich
Martin Opitz' „Buch von der deutschen Poeterey“ als verbindliches Regelwerk
akzeptiert hatte,
musste er zwölfhebige Jamben (Alexandriner) verwenden –
und natürlich alles in mundartfreier Hochsprache.
Meine Sestinen, die Sie auf den Folgeseiten finden,
sind dagegen in den üblichen zehn- bzw. elfsilbigen
Jamben verfasst,