Auf Anhieb – und auch nach mehrmaligem lauten Lesen –
werden Sie nicht sagen können, welche der Sestinen
die „einfache“ ist und welche die „komplizierte“.

Erst der Vergleich der beiden Versfolgemuster zeigt,
dass das linke Muster in der Versabfolge rascher zu durchschauen ist als das rechte.

„Komplizierte“ Sestinen sind keineswegs aufwändiger
zu verfassen als „einfache“. Voraussetzung ist aber:
Das jeweilige „Strickmuster“ muss man verstanden
und „verinnerlicht“ haben.

Komplizierter wird 's allerdings bei gereimten Endwörtern.
Es gibt, was die Form betrifft, dennoch Schwereres:
durchgehend geschüttelte Sonette, Pantune
und dreifach geschüttelte Limericks.

Nachdem Sie sich überzeugen konnten, dass der Bauplan
(die Form) der Sestinen korrekt eingehalten ist, wollen wir
uns jetzt dem Inhalt zuwenden.

Schon die Überschriften deuten darauf hin, dass es
um banale Inhalte gehen wird, um Alltagssituationen.
Aber immerhin wird die Thematik augenzwinkernd
mit Humor und Sprachwitz abgehandelt.
Das trifft auch auf die „Moral“ in der Schlussstrophe zu.

Ob solche auf Anhieb verständlichen Gedichte mit Themen
aus dem Erfahrensschatz fast aller Menschen aber als
Dichtung bezeichnet werden dürfen, sei bezweifelt.

Meinen beiden Gedichten hier auf der Seite fehlt etwas:
die Dichtersprache. Das ist eine „uneigentliche“, rätselhafte,
nicht ohne weiteres verständliche Sprache, bildlich, umschreibend, verfremdend, mit Stilmitteln wie Allegorie, Metapher, Parabel, Symbol, Chiffre, Hyperbel, Periphrase.
Aber bitte aufpassen: Schwülstige oder geschraubte Ausdrucksweise ist untypisch für die Dichtersprache,
aber gängig in der Trivialliteratur.

Den Umgang mit Sprache, zumal mit Lyrik,
lernt man im Deutschunterricht (schon in der Grundschule,
wenn er gut ist). Mit dem „Produzieren“ von Elfchen
lassen sich bereits Kinder ab der 2.Klasse begeistern.

Dass Erwachsene oft so wenig Interesse an Lyrik haben,
liegt m. E. vor allem an Lehrkräften, die lieber dozierend den Lehrplan abarbeiten, statt die Lerninhalte interaktiv zu vermitteln.

Produktiver Umgang mit Sprache, speziell mit Lyrik, von der
Grund- bis zur Hochschule verspricht nachhaltigen Lernerfolg
mit hoher Kompetenz von der Alltags- bis zur Dichtersprache.

        
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Renate Golpon

Die Unschlüssige

1   „Die Sparsamkeit ist immer eine Zier“!
2   So lehrte uns ein altes Sprichwort schon.
3   Doch „Geiz ist geil“ – so heißt es heute hier.
4   Wir loggen uns ins Internet und schaun,
5   was www... zu Markt und Preisen sagt;
6   denn kaufen kann man auch im Laden dann!

6   Ich kaufe später – und vor Ort hier dann
1   nach langem Schauen wohl und viel Gezier.
5   Doch erst mal hören, was die Freundin sagt.
2   Die hat den Laptop doch sechs Wochen schon.
4   Und dann beim Händler prüfen, gründlich schaun.
3   'nen „Geiz-ist-geil-Shop“ gibt 's schon lange hier.

3   Im „Geiz-ist-geil-Markt“ in dem Städtchen hier
6   doch bloß nicht allzu zügig kaufen dann!
4   Erst alles zeigen lassen, lange schaun.
1   Denn Sparsamkeit war immer meine Zier!
2   In vier Spezialgeschäften war ich schon.
5   In keinem hat der Preis mir zugesagt.

5   In keinem hat der Preis mir zugesagt.
3   Auch nicht in diesem „Geiz-ist-geil-Markt“ hier!
2   Zwar kriegte ich da auch Rabatte schon.
6   Doch zögre ich. „Und tschüs! Bis morgen dann!“
1   Ich denke mir: Sei sparsam! Das ist Zier!
4   Du solltest in der Großstadt erst noch schaun!

4   Ja, dann in Hamburg werd ich morgen schaun,
5   doch heut noch hören, was die Freundin sagt.
1   Die lacht nur. Sparsamkeit sei keine Zier
3   und Geiz nicht geil! – Ich bleib nicht länger hier!
6   Die Sprüche hör ich mir nicht an. „Bis dann!“
2   „He, warst du denn auch in dem Kaufhaus schon?“

2   „Im Warenhaus? Da war ich gestern schon!
4   Ganz schlechter Service, voll, ich konnt nur schaun.
6   Mit Mühe fand ich den Verkäufer dann,
5   und hörte, was der Profi da so sagt'.
3   Er zeigte mir sein schönstes Prachtstück. „Hier!
1   Ganz schwarz und schlicht, jedoch mit Apfel-Zier!“

1+2   Die Apfel-Zier – o ja, die kannt ich schon!
3+4   Jedoch – dann aber hier den Preis zu schaun ...
5+6   Mein Herz sagt ja – doch nein mein Sparschwein dann!

Renate Golpon

Die eingebildete Kranke

1   Sie steht am Morgen auf mit mieser Miene.
2   „Welch öder Tag! Wie soll ich ihn beginnen?
3   Was tut mir heute wohl am meisten weh?
4   Wie kann ich diesem Alltagstrott entrinnen?
5   Am besten leg ich gleich mich wieder hin,
6   zieh mir die Decke hoch bis unters Kinn.

6   Zieh ich die Decke hoch bis unters Kinn,
1   seh ich im Spiegel nicht die miese Miene.
2   Welch öder Tag! Ich lass ihn spät beginnen
3   Was tut mir heute denn am meisten weh?
4   Ich will dem Alltagstrott heut mal entrinnen
5   und gehe drum zum Arzt mal wieder hin!

5   Zu Fuß geh ich zum Doktor heute hin,
6   zieh mir den Kragen hoch bis unters Kinn.“
1   Und trotzdem sieht man noch die miese Miene.
2   „Welch öder Tag! Er sollte nie beginnen!
3   Die Beine tun mir jetzt am meisten weh.
4   Was soll ich tun, den Schmerzen zu entrinnen?“

4   Wehwehchen konnt noch niemals sie entrinnen!
5   Und deshalb geht zum Arzt sie wieder hin!
6   Der untersucht vom Fuß stets bis zum Kinn.
1   Da steht sie dann mit saurer, mieser Miene.
2   Der Arzt spricht fern, kann pünktlich nicht beginnen.
3   Ihr tut derweil der ganze Körper weh!

3   Am Telefon erfährt der Arzt vom Weh
4   des Mannes, der der Arbeit will entrinnen
5   und deshalb möcht zum Arzt mal wieder hin,
6   der gründlich untersucht dann bis zum Kinn
1   Die Frau steht da – halb nackt mit mieser Miene.
2   Nun ran! Der Arzt, er will sogleich beginnen.

2   Dass alle Tage immer gleich beginnen!
3   Der Arzt hört an ihr Ach und auch ihr Weh,
4   wie sie dem Alltagstrott kann nicht entrinnen
5   und nun zu ihm, dem Arzt, ging heute hin
6   zur Untersuchung, gründlich, bis zum Kinn.
1   Doch hellt nicht auf sich ihre miese Miene.

1+2   Mit mieser Miene muss kein Tag beginnen!
3+4   Dem großen Weh versuch doch zu entrinnen!
5+6   Leb froh dahin! Lach Falten bis zum Kinn!